Sabines zweieiige Zwillingsjungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Dies zeigt sich von Beginn an, auch in ihrer Entwicklung. Je näher der Schulbeginn kommt, desto mehr sind sich die Eltern klar, dass ein Zwilling von einer Rückstellung profitieren würde. Hier berichtet sie über ihre Gedanken dazu, die Wege die sie als Familie bestritten haben, um die getrennte Einschulung der Zwillinge zu erreichen und wie ihre Kinder damit umgehen:
Du hast zweieiige Zwillinge und ihr habt euch entschieden diese nicht gleichzeitig einschulen zu lassen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Unsere Zwillinge haben von Geburt an eine unterschiedlich stark ausgeprägte Entwicklung. Jonas, der Erstgeborene, entwickelt sich gefühlt von alleine und machte alle seine Meilensteine ohne direkte Hilfen von uns (durch besondere Förderung). Leon dagegen war in den ersten 4 Lebenswochen auf der Intensivstation und mussten danach regelmäßig zu Therapien inklusive täglicher Übungen zu Hause. Trotzdem wurde die Schere der Entwicklung immer größer. Jonas konnte dann schon laufen und Leon noch nicht mal krabbeln.
Wir haben uns die ganze Zeit immer wieder ärztlichen Rat eingeholt, da mein Bauchgefühl sagte, da stimmt etwas nicht. Es gab oft den Spruch:
Jedes Kind entwickelt sich im eigenen Tempo, wir hätten die absolute Spanne zu Hause und alles wäre noch im normalen Bereich.
Als Leon mit zwei Jahren das Laufen lernte, dachten wir, okay, er ist ein Spätzünder. Doch dann blieb die Entwicklung wieder stehen und ich sagte, da stimmt was nicht.
Dieses Mal trafen wir auf eine Ärztin die uns ernst genommen hat und wir sind den Weg der Diagnostik gegangen, damit wir eine Ursache für die klare Entwicklungsverzögerung bekommen. Tja, und dann ging es ganz schnell und die erste Diagnostik schlug ein, das EEG war auffällig und dann kam die Diagnose Epilepsie in unseren Leben. Wir stimmten der medikamentösen Therapie zu und seitdem macht Leon große Fortschritte. Er hat dann im letzten Jahr alle Meilensteine (Windel abgelegt, Fahrrad fahren, usw. exakt so wie Jonas ein Jahr zuvor gemacht und das war für uns der Entscheidungsgrund, warum wir uns mit der Rückstellung der Schule aktiv beschäftigt haben. Wir sind der Meinung das Leon die Entwicklungsverzögerung nicht mehr aufholen kann und wollten Leon den Druck nehmen.
Er entwickelt sich gut, braucht aber Zeit. Wir wollten ihn nicht schulreif fördern und ihn dafür unter Druck setzen.
Wie lief die Rückstellung des einen Zwillings ab? War es euer Wunsch oder wurde Euch dies von Fachpersonen angeraten?
Wir haben mit dem neuen Kita-Jahr 2023/2024 den Kindergarten gesagt, dass wir uns eine Rückstellung für Leon wünschen. Die Kita-Leitung hat unseren Wunsch der Rückstellung gleich bei der Schule angekündigt und Kontakte hergestellt und mir wurde dann genau Anweisungen gegeben, wie wir den Antrag stellen. Wir haben dann einen formlosen Antrag mit allen vorhandenen Berichten (MDK Pflegegrad, Therapieberichte, Arztberichte, Attest vom Kinderarzt) an die Schule gestellt. Dann wurden Leon beim Schultest in der Schule begutachtet (wie alle schulpflichtigen Kinder) und dort wurde uns gesagt, das wir Leon sehr gut im Antrag beschrieben haben und unsere Gründe sehr verständlich sind und deshalb befürworten sie auch die Rückstellung.
Diese Einstellung teilte aber unsere Frühförderung nicht. Sie schrieb in ihren Bericht, dass Leon schulreif wäre und somit eine Rückstellung nicht befürwortet. Das hat uns enorm verunsichert und ich habe um einen vorzeitigen Termin beim Gesundheitsamt für die Schuleingangsuntersuchnung gekümmert. Es war uns wichtig Klarheit zu bekommen, da Leon im Kindergarten nicht am Vorschulprogramm teilgenommen hat (weil wir Eltern das so mit der Kita-Leitung abgesprochen haben) und ich mir von der Frühförderung den Vorwurf gefallen lassen musste, dass wir Leon Bildung verweigern.
Deshalb war der Termin beim Gesundheitsamt gefühlt, der wichtigste Termin und da waren wir beide anwesend. Die Amtsärztin machte die üblichen Tests mit Leon und er hat das so toll gemacht, das ich mega stolz auf ihn war. Hier war es ein großer Vorteil das Leon vor Jonas getestet wurde, denn als Jonas dran war, wurden die Unterschiede wieder deutlicher sichtbar.
Dann schaute die Amtsärztin mich an, weshalb wir die Rückstellung beantragt haben, und dann packte ich den Aktenordner mit den Berichten raus und sagte ihr, das ist das Ergebnis von unserer Förderung. Sie schaute sich die Berichte grob an und sie sagte nur, damit hat sie nicht gerechnet. Sie war beeindruckt von uns Eltern und von Leon, denn er habe von der Förderung sehr profitiert. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Amtsärztin hat Leon gesehen. Eine Woche später gab es dann die offizielle Bestätigung das Leon zurückgestellt ist.
Wie hast du deinen Zwillingen erklärt, dass einer zur Schule gehen wird und der Zwillingsbruder noch etwas länger in der Kita bleiben darf?
Am Anfang haben wir beide Kinder gefragt und beide wollten zusammen in die Schule. Dann habe ich Leon gefragt, wie er es finden würde, wenn er alleine noch in der Kita bleibt und da hat er gesagt, das er es doof findet. Und genau an diesem Gefühl arbeiten wir das ganze Kita-Jahr. Er ist im Kindergarten nicht im Vorschulprogramm, weil so von Beginn an die Jungs in diese Situation wachsen sollen.
So hatte Jonas viele besondere Termine, wo Leon nicht dabei war. Immer wieder fragte ich Leon und ja, er fand das doof und genau da habe ich angesetzt.
Er darf dieses Gefühl haben. Ich spreche es ihn nicht ab und sage ihm auch klar, dass er es doof finden darf.
Trotzdem darf er sich auf eine eigene Einschulung freuen und muss sich diese nicht mit seinem Bruder teilen. Da sie immer Geburtstag zusammen feiern, war es der erste positive Aspekt den Leon angenommen hat und dass er auch eine Schultüte (Geschwistertüte) bekommt.
In den letzten Wochen hat es sich dann auch schon ergeben, dass Leon alleine im Kindergarten war, weil Jonas Vorschulprogramm hatte und er signalisierte mir, das er es immer besser findet ohne Jonas in den Kindergarten zu sein. Ich glaube er hat gemischte Gefühle. Wie es wirklich sein wird, werden wir erst nach der Einschulung wissen.
Jonas macht auf mich einen sehr positiven Eindruck, er kommt gut damit klar, dass er alleine zur Schule gehen wird.
Wie gehen deine Zwillinge damit um? Was beschäftigt sie?
Jonas hatte am Anfang tatsächlich auch ein Spruch gelassen, dass er besser wäre als Leon und das habe ich sofort unterbunden und beiden erklärt, das Leon einfach Zeit braucht und das es total ok ist, nicht in die Schule zu gehen. Was uns auch hilft, er ist nicht der Einzige, der zurückgestellt ist. Das hilft zu erklären, Leon ist ok, so wie er ist.
Jetzt kurz vor Ende der Kita-Zeit ist es klar und Leon zeigt deutlich weniger traurige Momente, wenn Jonas von der Schule redet. Das allerwichtigste für beide war auch, Leon bekommt auch alles was Jonas bekommt. Aus diesem Grund haben wir nicht nur Jonas sein Zimmer renoviert und mit Schreibtisch ausgestattet, sondern auch Leon. Doch eben nacheinander, denn wir konnten nicht beide Zimmer gleichzeitig machen. Aber die Art und Weise wie wir es gemacht haben, hat beiden gezeigt, sie bekommen beide das Gleiche nur eben zeitversetzt und deshalb hat Jonas dieses Jahr seinen Schulranzen bekommen und Leon bekommt ihn nächstes Jahr.
Welche Herausforderungen siehst du in der Begleitung der nächsten Monate für Euch als Eltern?
Die überschwängliche Vorfreude und Aufgeregtheit bei Jonas zu begleiten und die eventuell noch auftretende Traurigkeit von Leon je näher die Einschulung kommt.
Das Begleiten der Gefühle in allen seinen Bandbreiten, das wird unser Spagat werden. Ich bin mir sicher, gerechte Verteilung meiner Aufmerksamkeit wird es nicht geben, aber ich bemühe mich, den Gefühlen unserer Kinder Raum geben zu lassen und ich hoffe jedes Kind bekommt seine Bedürfnisse erfüllt, eben so wie jedes es Kind benötigt.
Was würdest Du Eltern in einer ähnlichen Situation raten?
Hört auf eurer Bauchgefühl. Egal wie oft gesagt wird, eine Rückstellung ist schwer (hier in Schleswig-Holstein ist nur in Ausnahmefällen eine Rückstellung möglich), es lohnt sich alle Wege auszuprobieren. Bei uns war der Weg über Förderschule verwehrt, Leon ist zu gut und bekommt dort kein Platz. Einschulung mit Schulbegleiter wäre die Option gewesen, wenn die Rückstellung nicht geklappt hätte, auch dafür hatte ich Anträge abgegeben.
Nur weil er Zwilling ist, wollten wir ihn nicht einschulen. Der permanente Vergleich unter den Zwillingen haben wir noch als weiteres Argument gesehen, dass es wichtig ist, dass Jonas und Leon nicht zusammen in eine Klasse gehen. In der Dorfschule bei uns im Ort gibt es nur eine Klasse. Die Frage zusammen oder getrennt, war für uns klar, getrennt und am liebesten ein Jahr dazwischen, damit Leon und Jonas sich unabhängig voneinander entwickeln können und das in ihrem Tempo.
Die Rückstellung betrachte ich als zusätzliche Zeit für Leon, die ihm die ganze Zeit fehlte, um an Jonas Entwicklungstand zu kommen. Ja, jeder Zwilling entwickelt sich in seinem Tempo und es hilft keinem, wenn deshalb ein Kind so stark unter Druck gesetzt wird, dass er schulreif wird.
Was ich bisher wahrnehme: die frühe Entscheidung sich um die Rückstellung zu kümmern, hat uns sehr geholfen, denn wir haben uns ein ganzes Jahr darauf vorbereiten können.
Was wünscht Du Dir zukünftig für deine Kinder?
Bei Leon wünsche ich mir innerlich dass er durch die Rückstellung aus der Rolle „ Ich muss ständig gefördert werden“ rauskommt und mit dem Schulbeginn nächstes Jahr gleichauf mit den Kindern ist, die mit ihm eingeschult werden und wir den Pflegegrad nicht mehr benötigen. Außerdem wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass er im letzten Kita-Jahr aus dem Schatten von Jonas kommt und als Leon gesehen wird und nicht als Bruder von Jonas.
Für Jonas wünsche ich mir, dass er große Freude beim Lernen und Üben entwickelt. Ich erhoffe mir das er seine Handbremse löst, weil er ständig Rücksicht auf seinen Bruder nehmen musste und das nun vorbei ist. Er wäre teilweise viel weiter, aber im Zwillingsdasein ist er immer der Bessere und deshalb fehlt der Antrieb in der Selbstmotivation.
Liebe Sabine, danke für Deinen wertvollen Bericht, der andere Eltern ermutigen kann, genau auf ihre Kinder und ihre Bedürfnisse und Entwicklungen, ganz unabhängig vom Zwillingsgeschwister zu schauen.
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